Da war er wieder. Es war wie ein Fluch für sie. Leben im Tod, als hätte sie auf Hoher See einen Albatross getötet und müsste bis in alle Ewigkeit herumreisen und ihre Geschichte erzählen.
Der Grund für ihre starke Abneigung dem gegenüber war ebenfalls Geschichte, bald wohl auch Inhalt von Geschichtsbüchern. Doch von welcher Abneigung überhaupt die Rede ist, soll kein Rätsel bleiben. Die Antwort ist simpel ... Freitag.
Die Erinnerung an diese sich ewig wiederholende Bürde war ein stetiger Begleiter Captain Davions. Jeden Freitagmorgen, oft auch bereits den Abend zuvor während des Zubettgehens kreisten ihre Gedanken um das, was sie nach Dienstschluss tun würde. Das was sie immer tat, Woche um Woche, seit nunmehr 18 Monaten. Wie lange noch, das spielte keine Rolle. Hauptsache sie blieb ihrem Versprechen treu.
Gegen 19 Uhr betrat der Captain der Aurora in eine frische Uniform gekleidet das Elf Vorne, auch diesen Abend Hort des fröhlichen Beisammenseins an Bord des Schiffes. Wie in einem kleinen Kollektiv waren die einzelnen Gespräche zu einem Hintergrundrauschen, dessen einzelne Bestandteile sie auf die Schnelle nicht zu trennen vermochte. Auch die einzelnen Syntheholika, deren Aroma jeden grüßte, der das Schiffscasino durch die beiden großen Glastüren betrat, vermochte sie nicht einzeln zu identifizieren. Doch dies war nicht Grund für das Aufsuchen dieses Ortes, was dem Barkeeper auch bereits bekannt war. Das Casino wusste Bescheid.
Der Barkeeper nickte Davion, als diese an den Tresen trat, stumm zu und stellte ihr eine Flasche Cognac hin. Ebenso stumm erwiderte der Captain das Nicken und zog einen kleinen Flachmann aus einer Uniformtasche, den sie mit der Routine von über 70 Wochen im Handumdrehen füllte.
So konzentriert, beinahe verkrampft auf die Ausführung dieser einer motorischen Tätigkeit bedacht, war sie, dass ihr die Blicke der anwesenden Crewmitglieder nicht auffielen. Es waren ohnehin weitaus weniger Blicke als noch vor einem Jahr. Die Crew wusste Bescheid.
Nachdem sie den nun gefüllten Flachmann wieder in der Uniform verstaut hatte schob sie die Flasche mit der Linken über den Tresen und machte auf dem Absatz Kehrt, um das Casino ohne weitere Umschweife in Richtung Turbolift zu verlassen.
Ohne wie üblich anderen Besatzungsmitgliedern zu begegnen, betrat sie den leeren Andachtsraum der Aurora, der bereits während des Raghdorkrieges provisorisch eingerichtet worden war. Die aktuelle Installation war neueren Ursprungs und weitaus professioneller. Ein Holoprojektor zeigte nacheinander Bilder aller im Dienst auf der Aurora verstorbenen Besatzungsmitglieder und bot die Möglichkeit weitere Informationen über diese aufzurufen. Viele der Gesichter hatte Marie erst im Nachhinein den Namen zuzuordnen gelernt. Zu kurz war ihre Zeit an Bord gewesen, um alle während des Kriegs auf der Aurora dienenden Besatzungsmitglieder kennenzulernen. Über dem Grund ihres Kommens lag absolute Klarheit. Der Andachtsraum wusste Bescheid.
Da war sie, die Gänsehaut, die sie jedes Mal, wenn sie diesen Raum betrat, jeden Freitagabend, erfasste. Ein unbeschreibliches Gemisch aus Trauer, Wut, Angst, Freude und unzähligen anderen Gefühlen machte sich in der jungen Frau breit und schien von ihrem Körper Besitz zu ergreifen. Da waren sie, die Erinnerungen, über die sie mit ihren engsten Vertrauten, ihrer Frau Annika und ihrer besten Freundin Nadine nicht sprechen konnte. Mit ersterer nicht, weil sie diese nicht damit belasten wollte, mit letzterer, weil sie nicht wollte.
Zwar hatte sie mit anderen häufig darüber gesprochen, in Pflichtsitzungen mit Psychologen, oberflächlichen Gesprächen zwischen Veteranen, aber mit jemandem, der die Person Marie-Louise Davion wirklich kannte? Das würde ihr wohl auf ewig verwehrt bleiben und so hämmerten die Erinnerungen und damit verbundenen Gefühle geradezu auf die junge Frau ein, Welle um Welle, Salve um Salve, wie einst die Raghdor.
Vor ihren Augen spielten sich Szenen aus dem Krieg an, den sie an vorderster Front bestritten hatte, in dem sie und ihr Schiff wohl vor allem durch unerhörtes Glück Heldenstatus erreicht hatten. Die ersten Kämpfe, die ersten Toten, die großen Schlachten, viel mehr Tote ...
Da lag sie wieder in aufgeschnittener Uniform auf der Krankenstation, ihr Geist zwischen Bewusstsein und Schlaf, ihr Körper genau zwischen Leben und Tod. Die einzigen Sinneseindrücke waren der Lärm und Gestank um sie herum und der kühle Luftzug auf ihrer nackten Haut. Davion blickte an sich herunter, unterdrückte jedoch den Drang mit einer Hand über den Ort der Operation zu fahren, die damals im Mai 2384 während Operation Kettenbrecher ihr Leben rettete. Die Verletzungen waren geheilt, selbst die Narben waren verschwunden und die neue Milz arbeitete einwandfrei. Es war ihr erstes größeres Gefechtskommando und endete in einem Desaster. Wieder war es der Zufall, die Zerstörung des Führungsschiffs USS Nixon, gewesen, der sie in diese Situation gebracht hatte, doch konnte sie sich damals mit dem Gedanken trösten, dass wenigstens einige der Beteiligten überhaupt noch lebten, um von diesem Desaster berichten zu können.
Ihre durch jahrelanges und intensives Fußballspiel trainierten Beine schienen nachzugeben und zwangen den Captain sich auf dem Tisch zu ihrer Seite abzustützen. Ein brennender Schmerz ließ ihre Finger jedoch zurückschnellen, hatte sie in diesem Moment der Unaufmerksamkeit doch tatsächlich die beiden großen Kerzen vergessen, die dem Andachtsraum Tag für Tag ihr schwaches Licht spendeten.